Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 18.01.2022 (Rs. C-261/20) entschieden, dass in einem Rechtsstreit zwischen ausschließlich privatrechtlichen Personen Unionsrecht einer Anwendung der Mindesthonorare für Architekten und Ingenieure gemäß der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) nicht entgegensteht. Das Urteil ist von weitreichender Bedeutung, da damit unter anderem Aufstockungsklagen von Planern auf den gesetzlichen Mindestsatz wieder Auftrieb gegeben wird.
Anlass der aktuellen Entscheidung war ein Vorabentscheidungsersuchen des BGH, das an das Urteil des EuGH vom 04.07.2019 (Rs. C-377/17) anknüpfte. Der EuGH entschied damals, dass die staatlich festgelegten Mindest- und Höchstsätze der HOAI wegen der nicht ordnungsgemäß erfolgten Umsetzungen der Dienstleistungsrichtlinie in nationales Recht europarechtswidrig sind.
Der deutsche Gesetzgeber hat dem 2019 ergangenen Urteil des EuGH zwischenzeitlich Rechnung getragen und die HOAI angepasst. Die neue Fassung trat zum 01.01.2021 in Kraft. Die Honorarvorgaben der HOAI stellen danach nur noch einen unverbindlichen Orientierungsrahmen dar. Für Altverträge, die vor dem 01.01.2021 geschlossen wurden, gilt aber weiterhin die alte HOAI.
Streitig diskutiert wurde jedoch, welche Auswirkungen die damalige 2019er-Entscheidung des EuGH auf Altverträge hat, konkret, ob die HOAI-Mindest- und Höchstsätze auf die Altverträge, d.h. auf Verträge die bis zum 31.12.2020 abgeschlossen wurden noch Anwendung finden.
Nach bisheriger Rechtslage waren Honorarvereinbarungen außerhalb der HOAI-Mindest- und Höchstsätze grundsätzlich nichtig. Dies eröffnete Planern die Möglichkeit, vom Auftraggeber nachträglich das Delta zwischen dem vertraglich vereinbarten Honorar unterhalb der Mindestsätze und dem Mindestsatzhonorar einzufordern. Nach dem Urteil des EuGH aus dem Jahr 2019 war fraglich, ob solche Forderungen noch durchgesetzt werden können. Durch die deutschen Gerichte ergingen hierzu divergierende Entscheidungen (gegen eine Anwendung der HOAI-Mindestsätze beispielsweise OLG Celle, Urteil vom 01.04.2020 – 14 U 185/19; für eine Anwendung der HOAI-Mindestsätze beispielsweise OLG Hamm, Urteil vom 23.07.2019 – 21 U 24/18).
Der EuGH schafft nun Rechtsklarheit und stellte auf die Vorlagefrage des BGH klar, dass jedenfalls bei Altverträgen zwischen Privaten weiterhin die europarechtswidrig erachteten Vorschriften der HOAI anwendbar seien. Richtlinien der Europäischen Union richteten sich unmittelbar nur an die Mitgliedstaaten und begründeten daher grundsätzlich keine Verpflichtungen für Einzelne. Jedenfalls in einem Rechtsstreit zwischen ausschließlich Privaten scheide nach Ansicht des EuGH im vorliegenden Fall eine unmittelbare Anwendung aus. Damit schloss der EuGH sich nicht dem Schlussantrag des Generalanwalts vom 14.07.2021 an, der sich gegen eine Anwendung der HOAI-Mindestsätze aussprach.
Bemerkenswert ist weiter, dass der EuGH darüber hinaus ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass die Unvereinbarkeit der HOAI-Mindest- und Höchstsätze mit Unionsrecht geeignet sei, Schadensersatzansprüche gegenüber dem Staat auszulösen.
Was bedeutet die Entscheidung des EuGH nun für die Praxis?
Diese ist zunächst relevant für bereits laufende Klageverfahren und Verträge, die vor dem 01.01.2021 geschlossen wurden. Ausgesetzte Klageverfahren werden nun wiederaufgenommen und unter Berücksichtigung der Mindest- und Höchstsätze entschieden werden. Zudem werden Auftraggeber sich in Altverträgen neuen Forderungen und Klagen aus Mindestsatzunterschreitungen ausgesetzt sehen. Dies gilt jedenfalls für private Auftraggeber.
Nicht geäußert hat der EuGH sich zur Anwendbarkeit des HOAI-Preisrechts in Altverträgen mit einem öffentlichen Auftraggeber. Anders als private Auftraggeber sind diese als Teil der öffentlichen Hand unmittelbarer Adressat der Dienstleistungsrichtlinie. Die Höchst- und Mindestsätze durften daher durch öffentliche Auftraggeber auch vor Inkrafttreten der HOAI 2021 in Neuverträgen nicht mehr verbindlich vorgegeben werden. Auch eine Berufung auf eine Höchstsatzüberschreitung durch einen öffentlichen Auftraggeber scheidet aus. Es ist jedoch fraglich, ob dies auch bezogen auf Mindestsatzforderungen von Planern gelten kann. Diese würden damit nämlich schlechter gestellt, als wenn Vertragspartner ein privater Auftraggeber wäre. Dies wird sicher weitere rechtliche Diskussionen auslösen, die möglicherweise ebenfalls vom EuGH entschieden werden müssen. Auch öffentliche Auftraggeber müssen daher wohl weiterhin mit Mindestsatzklagen rechnen.
Auftraggeber, die sich einer Mindestsatzklage ausgesetzt sehen, sollten weiter prüfen, ob und in welchem Umfang für entstandene Schäden im Wege der Amtshaftung Regress genommen werden könnte. Auch hier werden jedoch noch viele Einzelfragen zu klären sein.
Für alle Fragen zur vorliegenden Entscheidung und zum Recht der Architekten und Ingenieure stehen Ihnen Rechtsanwalt Steffen Holatka (steffen.holatka@rittershaus.net) und Rechtsanwältin Manuela Luft (manuela.luft@rittershaus.net) gerne zur Verfügung.
Newsletter Architekten- und Ingenieurrecht Januar 2022 (PDF)