Am 9. Juli 2021 hat die EU-Kommission ihren Entwurf für eine überarbeitete Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („Vertikal-GVO“) samt entsprechender Leitlinien veröffentlicht. Grund hierfür ist, dass die aktuell geltende Vertikal-GVO am 31. Mai 2022 ausläuft. Bereits seit Herbst 2018 konnten in dem von der EU-Kommission eingeleiteten Evaluationsprozess verschiedene Interessenvertreter zu den bestehenden Regelungen Stellung beziehen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Das Ergebnis dieser Evaluation hat die Kommission im September 2020 in einem „Staff Working Document“ veröffentlicht. Zu dem nun veröffentlichten Entwurf können Interessenträger bis zum 17. September 2021 Stellung beziehen.
Bedeutung
Die Vertikal-GVO ist eine für die Praxis überaus relevante Gruppenfreistellungsverordnung der EU-Kommission, welche die Voraussetzungen regelt, unter denen vertikale Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die auf unterschiedlichen Stufen einer Lieferkette stehen, von dem Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV freigestellt sind. Derartige Gruppenfreistellungsverordnungen sollen einen „sicheren Hafen“ für Unternehmen schaffen, indem sie verbindliche Regelungen für Vereinbarungen etablieren, bei denen die wettbewerbsfördernden Effekte typischerweise die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen überwiegen. Im Anwendungsbereich der Vertikal-GVO werden Wettbewerbsbeschränkungen in vertikalen Lieferverhältnissen grundsätzlich vom Kartellverbot freigestellt, soweit diese nicht zu den in der Verordnung enumerativ aufgelisteten besonders schweren Beschränkungen gehören.
Digitalisierung – Die Auswirkungen des Internets
Seit dem Inkrafttreten der aktuellen Fassung der Vertikal-GVO sind bereits mehr als 10 Jahre vergangen, in denen sich die Märkte stetig weiterentwickelt haben. Dementsprechend galt es im Rahmen der Überarbeitung der Vertikal-GVO, einige neue – dem Zeitalter des Internets geschuldete – Phänomene zu berücksichtigen und sinnvollen Regelungen zuzuführen.
Online-Vermittlungsplattformen
Eine besondere Herausforderung stellte hierbei die Einordnung von Online-Vermittlungsplattformen wie Onlinemarktplätzen oder Buchungsportalen dar. So war lange Zeit umstritten, auf welcher Seite diese neuen Marktakteure stehen: Sind sie Anbieter von Vermittlungsleistungen, Abnehmer und Weiterverkäufer oder keines von beidem?
Die Kommission stellt in ihrem Entwurf ausdrücklich fest, dass „Anbieter“ von Waren und Dienstleistungen auch Unternehmen sind, die Online-Vermittlungsdienste erbringen, und zwar unabhängig davon, ob die vermittelte Transaktion letztlich auf der Webseite des Vermittlungsdienstes abgeschlossen wird oder nicht. Die Vertikal-GVO ist damit also grundsätzlich auch auf Vereinbarungen zwischen Online-Vermittlungsplattformen und Händlern anwendbar.
Die Freistellungswirkung für Online-Vermittlungsplattformen ist allerdings eingeschränkt: So soll diese keine Anwendung auf das Verhältnis zwischen Online- Vermittlungsplattformen und den auf der Plattform tätigen Händlern finden, wenn die Plattformbetreiber die vermittelten Produkte auch im eigenen Namen anbieten und damit in Wettbewerb zu den Händlern treten. Des Weiteren nimmt die Kommission sogenannte Preisparitätsklauseln, nach denen ein auf der Plattform tätiger Anbieter seine Produkte oder Dienstleistungen an anderer Stelle nicht zu günstigeren Konditionen anbieten darf, von der Freistellung aus.
Etwas überraschend ist, dass auch in Bezug auf Online-Vermittlungsplattformen die allgemeinen Marktanteilsschwellen gelten sollen. So ist für die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO entscheidend, dass der Marktanteil der beteiligten Unternehmen auf den betroffenen Angebots- und Nachfragemärkten jeweils nicht mehr als 30 % beträgt. Unberücksichtigt bleibt demnach, dass die Marktabgrenzung im Falle von Online-Vermittlungsplattformen aufgrund ihrer Mehrseitigkeit häufig schwierig ist, da diese stets zwei oder mehr Kundengruppen bedienen, die sich in ihrem Nachfrageverhalten gegenseitig beeinflussen. Außerdem wird der Marktanteil des Anbieters typischerweise anhand des Umsatzes berechnet. Da die Nutzung von Online- Vermittlungsplattformen zumindest für eine Nutzergruppe häufig unentgeltlich ist, ist dieses Kriterium insoweit nur bedingt geeignet.
Dualer Vertrieb
Aufgrund der Möglichkeiten des Internets verkaufen mittlerweile viele Hersteller ihre Produkte auch unmittelbar an den Endkunden. Diese Entwicklung führt dazu, dass heute in vielen Fällen Hersteller auch in Wettbewerb zu ihren eigenen Händlern treten (sog. dualer Vertrieb). Die aktuell noch geltende Vertikal-GVO stellt den dualen Vertrieb trotz der Wettbewerbsbeziehung zwischen Händlern und Herstellern grundsätzlich vom Kartellverbot frei.
Da der Direktvertrieb der Hersteller jedoch stetig zunimmt, kann aus Sicht der EU-Kommission nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Wettbewerbsbeschränkungen zwischen direktvertreibenden Herstellern und Händlern nur geringfügige Auswirkungen haben. Aus diesem Grund hat die Kommission in ihrem Entwurf eine zusätzliche Hürde für die Geltung der Vertikal-GVO eingeführt: Die Freistellung gilt demnach zwar auch für Vereinbarungen im dualen Vertrieb, im Falle eines für den Wettbewerb bedeutenden Informationsaustauschs allerdings nur, sofern der gemeinsame Marktanteil der beteiligten Unternehmen auf dem relevanten Markt nicht mehr als 10 % beträgt. Bei Marktanteilen oberhalb von 10% gilt die Freistellung nur noch in Ausnahmefällen.
Kernbeschränkungen und sonstige nicht freigestellte Beschränkungen
Überarbeitet wurde zudem die Liste der Kernbeschränkungen und sonstigen nicht freigestellten Beschränkungen, insbesondere im Hinblick auf die Markt- und Kundengruppenbeschränkungen sowie die Laufzeit von Wettbewerbsverboten.
So hat die Kommission die aktuell geltende Kernbeschränkung für die Aufteilung von Gebieten und Kundengruppen in ihrem Entwurf etwas umständlich in drei Fallgruppen (Alleinvertrieb, selektiver Vertrieb, sonstiger Vertrieb) aufgespaltet, ohne dass sich zwischen den einzelnen Fallgruppen einerseits und gegenüber der aktuellen Vertikal-GVO andererseits tiefgreifende Änderungen ergeben. Änderungen zur bisherigen Regelung finden sich insoweit, als nun auch die Zuweisung eines Gebiets oder einer Kundengruppe an eine „begrenzte Zahl von Abnehmern“ vom Kartellverbot freigestellt sein kann und nicht mehr lediglich der Vorbehalt für den Hersteller selbst oder einen einzigen Vertriebshändler. Darüber hinaus soll die Kunden- und Gebietsbeschränkung zukünftig auch über mehrere Lieferebenen aufrechterhalten werden können. Eine Synopse der eher undurchschaubaren Regelung stellen wir hier zur Verfügung.
Positiv zu bewerten ist außerdem, dass Wettbewerbsverbote, deren Dauer sich über den Zeitraum von fünf Jahren hinaus stillschweigend verlängert, nun nicht mehr per se als unzulässige Wettbewerbsverbote von mehr als fünf Jahren Laufzeit gelten sollen. Sie sollen zukünftig grundsätzlich unter die Gruppenfreistellungsverordnung fallen, sofern der Abnehmer die in Rede stehende Vereinbarung mit einer angemessenen Kündigungsfrist und zu angemessenen Kosten wirksam neu aushandeln oder kündigen und damit nach Ablauf der Fünfjahresfrist seinen Lieferanten wirksam wechseln kann.
Ausblick
Die Kommission verfolgt mit Neufassung der Vertikal-GVO unter anderem das Ziel, die Bestimmungen für die Unternehmen noch klarer und einfacher zu fassen, um so die Befolgungskosten für Unternehmen zu senken. Dies dürfte durch den nunmehr vorgelegten Entwurf nur teilweise gelingen. Positiv ist die Überarbeitung im Hinblick auf die neuen Herausforderungen des Internets. Insbesondere hinsichtlich des Phänomens der Online-Vermittlungsplattformen erfolgen überfällige Neuregelungen und Klarstellungen. Problematisch erscheint dagegen, dass eine Reihe subjektiver Tatbestandsmerkmale und unbestimmter Rechtsbegriffe aufgenommen wurde, die dem Gedanken der Vereinfachung und der Schaffung von Rechtssicherheit zuwiderlaufen. Die recht umständlich wirkende Unterscheidung zwischen Alleinvertrieb, selektivem Vertrieb und sonstigem Vertrieb überzeugt ebenfalls nur bedingt. Die Umsetzung der neuen Vertikal-GVO klärt damit zwar einige Fragen, wirft gleichzeitig aber auch neue Fragen auf. Es bleibt zu hoffen, dass die Kommission die Schwachstellen des Entwurfs vor der endgültigen Verabschiedung noch ausbessert.
Einen Vergleich zwischen dem Text der aktuell noch geltenden und der neuen Vertikal-GVO finden Sie hier.
Dr. Anno Haberer berät im Kartellrecht und gewerblichen Rechtsschutz, im allgemeinen Wirtschaftsrecht sowie im IT- und Datenschutzrecht. Für Fragen rund um das Thema Kartellrecht steht Ihnen Herr Dr. Haberer (anno.haberer@rittershaus.net) gerne zur Verfügung.