Die aktuelle Wirtschafts- und Liefersituation, ausgelöst insbesondere durch den Ukraine-Krieg und dessen Folgen, hat erhebliche Auswirkungen auf die Bauwelt: Preissteigerungen und Bauverzögerungen in laufenden Bauprojekten erhitzen die Gemüter, aber auch der Abschluss neuer Bauverträge ist für alle Beteiligten mit Unwägbarkeiten verbunden, die einen adäquaten Umgang mit den auftretenden Schwierigkeiten und die Suche nach Alternativen und für alle Vertragsparteien tragfähigen Lösungsmöglichkeiten erfordern.
1. Bestehende vertragliche Konstellationen / Grundsätze
Bestehende Vertragsverhältnisse unterliegen dem Grundsatz, dass das Beschaffungs- und Preisrisiko und mithin die Leistungsgefahr auf Seiten des Auftragnehmers übernommen worden ist. Auch in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie oder der jetzigen Krise verbleibt es zunächst bei dieser vertraglichen Risikoverteilung, so dass der Auftragnehmer sowohl in zeitlicher als auch in preislicher Hinsicht an die vertraglichen Regelungen gebunden bleibt. Enthalten Bauverträge weder sog. Force-Majeure-Klauseln noch Preisanpassungsklauseln / Preisgleitklauseln, besteht regelmäßig kein Lohn- und Materialpreis-Anpassungsanspruch des Auftragnehmers; Bauzeitverlängerungsansprüche hingegen kommen insbesondere bei VOB/B-Verträgen durchaus in Betracht mit Konsequenzen für den gesamten Bauablauf.
2. Bauzeitverlängerungsansprüche oder Verzug?
Bauzeitverlängerungsansprüche zugunsten des AN können sich bei Fehlen vertraglicher Sonderregelungen aus § 6 Abs. 2 VOB/B ergeben, wenn und soweit die hindernden Umstände aus dem Risikobereich des Auftraggebers resultieren (§ 6 Abs. 2 Nr. 1 lit.a) oder durch höhere Gewalt oder andere für den Auftragnehmer unabwendbare Umstände eingetreten sind (§ 6 Abs. 2 Nr. 1 lit. c), mithin den Auftragnehmer kein Verschulden an den verzögernden Umständen trifft.
a. Beeinträchtigungen aus dem Risikobereich des Auftraggebers
Die aktuelle Krisensituation kann Beeinträchtigungen des Auftragnehmers zur Folge haben, die dem Risikobereich des Auftraggebers zuzuordnen sind, beispielsweise verspätete Planlieferungen oder verzögerte behördliche Genehmigungen. Derartige Umstände stellen eine Verletzung der Mitwirkungspflichten des Auftraggebers gegenüber dem Auftragnehmer dar mit der Folge, dass der Auftragnehmer einen Anspruch auf Bauzeitverlängerung erheben kann (§ 6 Abs. 2 VOB/B). Auch in diesen Fällen hat der Auftragnehmer allerdings nach § 6 Abs. 3 VOB/B alles zu tun, was ihm billigerweise zugemutet werden kann, die Weiterführung der Arbeit zu ermöglichen.
b. Ukraine-Krieg und Weltmarktpreis-Entwicklung als Umstand höherer Gewalt?
Möglicherweise sind jedoch die aktuellen Bauablaufstörungen auf sog. „Umstände höherer Gewalt“ zurückzuführen, die ein Verschulden der Vertragspartei ausschließen würden. Der Begriff der höheren Gewalt i.S.d. § 6 Abs. 2 Nr. 1 lit. c) VOB/B wird definiert als Ereignis, welches nicht der Sphäre einer der Vertragsparteien zuzuordnen ist, sondern durch ein unvorhersehbares, von außen durch elementare Naturkräfte oder Handlungen Dritter herbeigeführtes Ereignis verursacht ist (st. höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. u.a. RGZ 171, 104; BGHZ 7, 338; BGHZ 109, 8; BGH, Urteil vom 17.02.2004, VI ZR 69/03; BGH, Urteil vom 22.04.2004, III ZR 108/03). Bei überschlägiger Bewertung könnte die aktuelle Krisensituation durchaus diesen Anforderungen entsprechen (so wohl i.E. auch Kues / Simlesa, IBR-Werkstatt-Beitrag vom 15.03.2022).
Allerdings verlangt die Rechtsprechung weiter, dass dieses Ereignis „nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit von Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist (vgl. u.a. RGZ 171, 104; BGHZ 7, 338; BGHZ 109, 8; BGH, Urteil vom 17.02.2004, VI ZR 69/03; BGH, Urteil vom 22.04.2004, III ZR 108/03). In Bauvertragsverhältnissen dürften diese Anforderungen allenfalls in den seltensten Fällen in Betracht gezogen werden müssen: Preissteigerungen, insbesondere für einzelne Materialien, sind der Bauwelt keinesfalls unbekannt und nahezu jederzeit zu erwarten. Daher wurde in der Vergangenheit beispielsweise für Stahlpreissteigerungen ein Preisanpassungsverlangen in der Rechtsprechung abgelehnt.
Die Ukraine-Krise wurde zwar spätestens im Jahr 2014 eingeläutet; der Konflikt jeweils nur vorübergehend stabilisiert, ohne jedoch die Krisensituation zu beenden, wobei die aktuellen Entwicklungen – wie dies nun ersichtlich ist – auch von der Politik nicht ansatzweise antizipiert wurden. Die vertragliche Risikoverteilung in Bauverträgen sieht das Preis- und Beschaffungsrisiko grundsätzlich auf Seiten des Auftragnehmers, weshalb die zu erwartende Sorgfalt regelmäßig auch die rechtzeitige Beschaffung und Vertragsbindung von Materialien und anderen für die Ausführung erforderlichen Ressourcen erfordert, weshalb wirtschaftliche Folgen für das jeweils bestehende Vertragsverhältnis durch eine adäquate Betriebsführung des Auftragnehmers begrenzt werden kann. Damit dürfte allenfalls ein äußerst geringer Anwendungsbereich für Fälle „höherer Gewalt“ in Betracht kommen, wobei der Auftragnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die jeweiligen Umstände und deren auf das spezifische Vertragsverhältnis einwirkenden Folgen sowie deren Unvermeidbarkeit trägt.
Lieferschwierigkeiten für Materiallieferungen, Kapazitätsengpässe etc. dürften daher dem Anwendungsbereich dieses Tatbestandes in der Regel nicht unterfallen, wenn und soweit diese nicht kausal durch infolge der Kriegsereignisse entstandene Grenzschließungen, behördliche Auslieferungsverbote oder Betriebsschließungen aufgrund behördlicher Anordnungen verursacht worden sind; gleiches gilt für den Ausfall von Nachunternehmen. Hingegen könnten im Einzelfall angeordnete behördliche Maßnahmen, wie etwa Einreiseverbote oder Lieferbeschränkungen, ggf. den Umstand höherer Gewalt begründen, wenn z.B. exakt die beschränkten Leistungen für das Vertragsverhältnis vorgesehen waren und Ersatzbeschaffungen unmöglich sind. Ob ein Fall höherer Gewalt bei konkreten Bauablaufstörungen tatsächlich anzunehmen ist und / oder ein Verschulden ausgeschlossen werden kann, hängt somit von den konkreten Umständen des Einzelfalls sowie der Möglichkeit der Vertragsparteien ab, die Störung nicht durch alternative Maßnahmen beseitigen zu können. Eine pauschale Beurteilung ist auch insoweit in der aktuellen Situation ausgeschlossen.
Die Darlegungs- und Beweislast für einen Ausschluss des Verschuldens obliegt dem Auftragnehmer, der somit für den Nachweis höherer Gewalt im Hinblick auf die konkret betroffenen Teilleistungen dezidiert belegen müsste, dass
- die Lieferschwierigkeit tatsächlich durch den Ukraine-Krieg / die geschilderten Umstände kausal bedingt ist und nicht auf eine mangelnde Planung oder zu geringe Bestellung / nicht rechtzeitige Vertragsbindung von Lieferanten, Nachunternehmern etc. zurückzuführen ist und
- dem Auftragnehmer eine – ggfs. Mehrkosten auslösende – Ersatzbeschaffung und / oder Beschleunigung zur Kompensation der aufgetretenen Bauablaufstörungen (Mehrarbeit / Wochenendarbeit, Einbeziehung anderer Nachunternehmer, Lieferantenwechsel etc.) unmöglich war.
Nur wenn der Auftragnehmer im Einzelfall den Nachweis hierfür erbringt, kommt die Verlängerung von Ausführungsfristen nach § 6 Abs. 2 VOB/B in Betracht.
3. Finanzielle Ansprüche der Vertragsparteien
Auch finanzielle Ansprüche des Auftragnehmers zur Kompensation ihm entstehender finanzieller Nachteile, die mit der derzeitigen Weltmarktkrise und Preisexplosion zweifelsohne einhergehen, sind ohne gesonderte vertragliche Abrede in der Regel ausgeschlossen:
a. Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche der Parteien
Bestehen keine vertraglichen Sonderregelungen, so kommen bei Bauablaufstörungen Entschädigungs- und / oder Schadensersatzansprüche gegen die jeweils andere Vertragspartei nur in Betracht, wenn diese hierfür einstandspflichtig ist (Verschulden). In der aktuellen Krisensituation entstehen daher selbst bei einem Anspruch auf Bauzeitverlängerung nach § 6 Abs. 2 VOB/B wegen höherer Gewalt mangels Eintritts von einer Partei zu vertretenden Umständen allerdings keine Entschädigungs- oder Schadensersatzansprüche der Parteien gegeneinander (vgl. § 6 Abs. 6 VOB/B). Gleiches gilt für Ansprüche nach § 642 BGB, da auch diese einen Annahmeverzug des Bestellers und mithin dessen Verschulden erfordern (vgl. hierzu insbesondere auch im Hinblick auf Entschädigungsansprüche nach § 642 BGB: BGH, Urteil vom 26.10.2017; VII ZR 16/17 m.w.N.; BGH, Urteil vom 30.01.2020, VII ZR 33/19).
b. Preisanpassungsverlangen nach § 313 BGB?
Daher wird diskutiert, ob ein Preisanpassungsverlangen des Auftragnehmers wegen Störung der Geschäftsgrundlage gerechtfertigt sein kann (so i.E. wohl Kues / Scheuermann, IBR-Werkstatt-Beitrag vom 16.03.2022). Ein Rückgriff auf die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn der Vertrag in Bezug auf Erschwernisse bei der Bauausführung bereits Preisanpassungsklauseln / Force Majeure-Klauseln ausdrücklich vorsieht oder explizit ausschließt, da die Parteien dann eine konkrete Risikozuweisung für das Preis- und Leistungsrisiko bereits getroffen haben (vgl. auch BGH, BauR 1974, 347; i.E. ebenso in BGH, Urteil vom 26.10.2017, VII ZR 16/17 m.w.N.).
Zudem dürfte bereits zweifelhaft sein, ob eine „wirtschaftlich stabile Lage“ ohne Kriegsereignisse im Europäischen Raum bzw. weltweit als Geschäftsgrundlage eines Bauvertrages angesehen werden kann; weniger noch können stabile Energie- / Materialpreise als Geschäftsgrundlage eines Vertragsverhältnisses angenommen werden (vgl. zur Auslegung des Begriffs in Bezug auf Bauverträge insbesondere BGH, Urteil vom 30.06.2011, VII ZR 13/10; BGH, Urteil vom 10.09.2009, VII ZR 82/08 m.w.N.). Insbesondere sind nach ständiger höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung die Grundlagen der Preisermittlung grundsätzlich keine Geschäftsgrundlage des Vertrages, da das Risiko einer unauskömmlichen Kalkulation von Vertragspreisen dem Auftragnehmer obliegt (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 30.06.2011, VII ZR 13/10 m.w.N.) und dieser für eine rechtzeitige Beschaffung der Ressourcen zur Erfüllung von ihm eingegangener Vertragsverhältnisse Sorge zu tragen hat.
Ein Preisanpassungsverlangen wegen Störung der Geschäftsgrundlage jedenfalls erfordert eine erhebliche Abweichung der zu erwartenden von den eingetretenen Umständen; die Rechtsprechung fordert hierbei eine so erhebliche Störung des Vertragsgefüges, dass ein Festhalten am Vertragspreis schlicht unzumutbar ist. Dabei verbietet sich zwar eine starre Grenzziehung, jedoch dürfte das Überschreiten einer Grenze von 20% der für den Vertrag vereinbarten Gesamtvergütung regelmäßig zu fordern sein (vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 30.06.2011, VII ZR 13/10). Da bei der Bewertung, ob ein Preisanpassungsverlangen gerechtfertigt sein könnte, sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind und mithin auch entscheidend ist, ob der Auftraggeber zur Fehlkalkulation beigetragen hat (vgl. instruktiv BGH, Urteil vom 30.06.2011, VII ZR 13/10), dürfte in der aktuellen Krisensituation die zu überschreitende Kostengrenze einen Kostensteigerungsanteil für das Gesamt-Vertragspreisniveau von 20% jedenfalls übersteigen müssen. Damit dürften bei Auftragnehmern, die ein Bündel an Bauleistungen aus einer Hand anbieten (Generalunternehmer, Generalübernehmer) die Hürden für Kostensteigerungen des Gesamtvertragspreisniveaus und mithin für die Beanspruchung von Preisausgleichsmodalitäten deutlich höher liegen als beispielsweise bei Auftragnehmern, die z.B. energieintensive Bauleistungen anbieten (z.B. Erdbauer, Abbruchunternehmer etc.).
4. Risikozuweisung beim Abschluss neuer Verträge
Die derzeitige Krisensituation und deren Folgen, insbesondere die rasante Preisexplosion und Materialverknappung, sind nunmehr allgemein bekannt mit der Folge, dass diese Umstände keine „höhere Gewalt“ im rechtlichen Sinne (mehr) begründen können. Ob es für Bauherren oder Auftragnehmer ratsam ist, entsprechende Klauseln zur Regelung von durch das Virus verursachten Bauablaufstörungen aufzunehmen, ist einzelfall- und projektbezogen zu beurteilen.
Für die öffentliche Hand wird daher teilweise die Aufnahme von Preisanpassungs- und Preisgleitklauseln bei (öffentlichen) Auftragsvergaben empfohlen, um eine sachgerechte und insbesondere vergaberechtskonforme Ausschreibung zu ermöglichen, ohne den Bietern unzumutbare Wagnisse bei der Vertragsanbahnung aufzuerlegen. So gelten für einen festgelegten Kreis öffentlicher Auftraggeber seit dem 25.03.2022 (zunächst befristet bis zum 30.06.2022) die für die Bundesbauverwaltung und den Verkehrswegebau von den Ministerien herausgegebenen Praxishinweise zur Aufnahme von Preisgleitklauseln in Neuverträge und ggf. Anpassung vertraglich vereinbarter Preise in bestehenden Vertragsverhältnissen (vgl. Schreiben des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen an das Bundesamt für Bauwesen Raumordnung, Fachaufsicht führende Ebenen in den Ländern zu Lieferengpässen und Preissteigerungen wichtiger Baumaterialien als Folge des Ukraine-Kriegs; BWI7-70437/9#4 vom 25.03.2022).
Im Bereich der privaten Auftragsvergabe wird ein faktischer Zwang für Vertragsschlüsse zur Aufnahme entsprechender Regelungen im Hinblick auf Bauzeit und Preisanpassungen deutlich erkennbar; zudem zeichnet sich bereits jetzt ab, dass sich in dem aktuellen Marktumfeld Generalunternehmer- bzw. Generalübernehmer schwer tun, Pauschalfestpreise anzubieten; stattdessen zeichnet sich hier bereits teilweise ein Trend zum vermehrten Einsatz von GMP-Vertragsmodellen ab, um die Risiken der Nachunternehmervergaben sowie etwaiger Materialpreissteigerungen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer adäquat zu verteilen.
Eine ausführlichere Darstellung auch der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung enthält unser Aufsatz in der IBR-online, Werkstattbeitrag (30.03.2022), „Bauverträge in Zeiten von Krisen und Krieg“.
Für alle Fragen im privaten Bau-, Architekten- und Ingenieursrecht stehen Ihnen Rechtsanwältin Julia Zerwell (julia.zerwell@rittershaus.net) und Rechtsanwalt Steffen Holatka (steffen.holatka@rittershaus.net) gerne zur Verfügung.
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