Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 5. März 2024 in dem Verfahren Malamud (C-588/21 P) festgestellt, dass europäische harmonisierte technische Normen kostenfrei zugänglich sein müssten. Das (ohnehin frei zugängliche) EU-Recht enthält häufig nur allgemeine Grundvoraussetzungen für Sicherheitsanforderungen und wird dann durch derartige Normen spezifiziert. Entwickelt werden diese Normen durch privatrechtlich organisierte, nationale Normungsorganisationen, zu denen auch das Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN) gehört.
In dem vorstehend benannten Verfahren hatten zwei gemeinnützige Organisationen auf kostenfreien Zugang zu bestimmten technischen Normen über die Anforderungen an die Sicherheit von Spielzeugen geklagt. In erster Instanz hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) einen solchen Anspruch noch verneint und damit dem Urheberrecht der betroffenen Normungsorganisationen Vorrang vor (kosten-) freier Zugänglichkeit eingeräumt. Dem ist der EuGH nicht gefolgt.
Zur Entscheidung des EuGH
In seiner Entscheidung ist der EuGH auf den urheberrechtlichen Schutz für harmonisierte technische Normen gar nicht erst eingegangen. Vielmehr hat er festgestellt, dass solche Normen, sofern sie von EU-Normen in Bezug genommen werden, Teil des EU-Rechts sind und daher frei zugänglich sein müssten. Es bestehe ein öffentliches Interesse an der kostenfreien Verfügbarkeit. Denn diese Normen seien maßgeblich dafür, dass sich jeder Einzelne über die sich entweder für ihn oder für die von den Normen betroffenen Hersteller ergebenden Rechte und Pflichten informieren kann. Hierdurch könne nämlich nachgeprüft werden, ob ein Produkt die jeweils in den Vorschriften festgelegten Anforderungen erfüllt. In rechtlicher Hinsicht wird der Anspruch auf die Transparenzverordnung 1049/2001/EG gestützt. Damit ist die Europäische Kommission nun verpflichtet, harmonisierte technische Normen kostenfrei zur Verfügung zu stellen.
Auswirkungen in der Praxis
Die Auswirkungen der Entscheidung sind erheblich. Die unabhängigen Normungsorganisationen haben die Anfertigung und Weiterentwicklung der Normen bislang maßgeblich durch deren Verkauf finanziert. Auf dem kostenpflichtigen Zugang basiert daher das komplette europäische Normungssystem. Es stellt sich nun die Frage, wie die für die Normung verantwortlichen Organisationen auch ohne die finanzielle Kompensation auf gleichem Niveau weiterarbeiten können. Wie die wegbrechende Einnahmequelle ausgeglichen oder die Normungsarbeit in Zukunft aussehen kann, wird in dem Urteil des EuGH nicht behandelt.
So wundert es nicht, dass insbesondere seitens der Industrieverbände erhebliche Kritik an dem Urteil laut wird. Denn der Rückgriff auf die entsprechenden Normen gewährleistet in maßgeblichem Umfang den aktuellen Standard der Produktsicherheit in Europa. Gerade in einem Zeitalter, in dem neue Technologien wie z.B. künstliche Intelligenz (KI) rasante Entwicklungen erfahren, bedarf es auch einer dem Fortschritt entsprechenden technischen Regulierung von Standards und Mindestanforderungen. Wie diese neuen Herausforderungen bei einer – wie Kritiker befürchten – aus dem EuGH-Urteil folgenden Erosion des technischen Normungssystems in Zukunft bewältigt werden können, bleibt abzuwarten.
Die Europäische Kommission trifft nun zunächst die Aufgabe, den kostenfreien Zugang auszugestalten. Weiter wird sie sich damit befassen müssen, wie auch in Zukunft ein hoher und sich ständig weiterentwickelnder Standard für Produktsicherheit aufrechterhalten werden kann.
Jonas Kuhlbrodt ist Ihnen gerne bei allen Fragen zum Urheberrecht behilflich und unterstützt Sie auch bei allen Themen rund um die Verwendung von technischen Normen.