Am 1. Juni 2022 ist es endlich soweit. Nach 12 Jahren ist es Zeit, sich langsam von der Verordnung EU Nr. 330/2010 („Vertikal-GVO 2010“) zu verabschieden und die Verordnung EU 2022/720 („Vertikal-GVO 2022“) willkommen zu heißen. Damit nimmt ein mehrjähriges Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene, das mehrere Runden von Working Documents und Entwürfen nebst intensiver Beteiligung von Marktteilnehmern, Verbänden und der Rechtswissenschaft umfasste, seinen Abschluss.
In einem früheren Blogbeitrag hatten wir den zwischenzeitlichen Entwurf der neuen Vertikal-GVO („Entwurf 2021“) aus dem Sommer 2021 untersucht und die Unterschiede zur Vertikal-GVO 2010 anhand von Vergleichstexten dargestellt. Dabei wurde an mehreren Stellen die Entwicklung zu größerer Rechtsunsicherheit und eine Abkehr vom „sicheren Hafen“ bemängelt. Der vorliegende Blogbeitrag beleuchtet nunmehr die Änderungen, die von der EU-Kommission in der Vertikal-GVO 2022 umgesetzt wurden – und zwar einmal im Vergleich zum Entwurf 2021 und einmal im Vergleich zur Vertikal-GVO 2010. Erneut stellen wir Ihnen entsprechende Vergleichstexte zur Verfügung.
• Vergleich Vertikal-GVO 2010 zum Entwurf 2021
• Vergleich Entwurf 2021 zur Vertikal-GVO 2022
• Vergleich Vertikal-GVO 2010 zur Vertikal-GVO 2022
Wo wurde noch nachgebessert?
Wie die Gegenüberstellung der Vertikal-GVO 2022 zum Entwurf 2021 zeigt, hat die EU-Kommission keineswegs nur redaktionelle Änderungen vorgenommen. Im Gegenteil hat sich die EU-Kommission die breite Kritik am Entwurf 2021 zu Herzen genommen und noch einige erhebliche Änderungen in der Sache vorgenommen. Nachfolgend eine Übersicht über die wichtigsten Änderungen:
Definitionen
Die Definitionen des „Anbieters“, der „Online-Vermittlungsdienste“ sowie des „aktiven und passiven Verkaufs“ wurden noch nachgeschärft. Bedeutend ist die Klarstellung in der Definition des „Alleinvertriebssystems“, nach welcher nunmehr eine feste Grenze von fünf Abnehmern festgelegt wurde. Eine klare Verbesserung gegenüber der unklaren „begrenzten Zahl“ an Abnehmern, für welche der Entwurf 2021 zurecht kritisiert worden war. Die Definitionen des „Kunden des Abnehmers“ sowie der „Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs“ wurden gestrichen.
Anwendbarkeit der Vertikal-GVO
In puncto Rechtssicherheit absolut zu begrüßen ist die Überarbeitung des Ausnahmetatbestands von der Anwendbarkeit der Vertikal-GVO auf Wettbewerber gemäß Art. 2 Abs. 4. So hat die EU-Kommission die im Entwurf 2021 eingeführte zusätzliche Marktanteilsschwelle von 10% wieder gestrichen. Zugleich wird der Anwendungsbereich der Vertikal-GVO auf alle Fälle ausgedehnt, in denen auf der nachgelagerten Marktstufe ein Wettbewerbsverhältnis besteht, solange dies auf der vorgelagerten Marktstufe nicht der Fall ist. Im Entwurf 2021 hatte die EU-Kommission noch an der bisherigen Regelung der Vertikal-GVO 2010 festgehalten, die auf der vorgelagerten Marktstufe nur Hersteller umfasste.
Hinsichtlich des Informationsaustausches im Vertikalverhältnis wurde ebenfalls von der zusätzlichen Marktanteilsschwelle von 10% Abschied genommen. Stattdessen setzt die EU-Kommission nun auf ein qualitatives Kriterium und nimmt den Informationsaustausch im Vertikalverhältnis von der Freistellung aus, wenn es sich bei den Parteien um Wettbewerber handelt, wenn der Informationsaustausch nicht direkt die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft oder nicht zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich ist.
Zuweisung von Gebieten und Kundengruppen
Entsprechend der bereits angesprochenen Änderung der Definition des Alleinvertriebssystems wurde auch die Zuweisung von Gebieten und Kundengruppen nach Art. 4 lit. b) konkretisiert, so dass die kritische Grenze nun bei der Exklusivzuweisung an fünf Abnehmer verläuft. Gleiches gilt auch für die parallele Regelung für den selektiven Vertrieb.
Beschränkungen des Internethandels
Gegenüber dem Entwurf 2021 neu aufgenommen wurde die Regelung in Ziffer 4 lit. e), die nunmehr klarstellt, dass der Hersteller seine Abnehmer nicht an einer „wirksamen“ Nutzung des Internets hindern darf. Was eine „wirksame“ Nutzung des Internets ist, wird sich zeigen. Zulässig soll es allerdings sein, den Online-Verkauf und die Online-Werbung zu beschränken, wenn dadurch der Internethandel bzw. Online-Werbekanäle nicht insgesamt blockiert werden.
Entzug des Rechtsvorteils im Einzelfall
Die – praktisch nicht genutzte – Möglichkeit des Entzugs der Freistellungswirkung der Vertikal-GVO im Einzelfall gemäß der VO (EG) Nr.1/2003, die bislang nur in den Vertikalleitlinien angesprochen war, wurde eingefügt.
Und was ändert sich nun?
Auch wenn die EU-Kommission gegenüber dem Entwurf 2021 einige Ideen wieder verworfen hat, enthält die Vertikal-GVO 2022 gegenüber der bislang geltenden Vertikal-GVO 2010 eine Reihe wichtiger Neuerungen:
Definitionen
Die neue Vertikal-GVO enthält eine ganze Reihe neuer Definitionen. Namentlich die Begriffe des „Anbieters“, der „Online-Vermittlungsdienste“, der „Alleinvertriebssysteme“ sowie des „aktiven und passiven Verkaufs“ sind jetzt definiert. Neben der gesetzlichen Normierung von Begriffen, die bislang nur in den Vertikal-Leitlinien erläutert wurden, zeugen die Änderungen von der Intention der EU-Kommission, Online-Plattformen und Online-Vermittlungsdienste in den Fokus zu rücken.
Anwendbarkeit der Vertikal-GVO
Die Rückausnahme von der Nichtanwendbarkeit der Vertikal-GVO auf Wettbewerber gemäß Art. 2 Abs. 4 der Vertikal-GVO wird neu gefasst. Während bislang nur ein Wettbewerbsverhältnis auch auf der Herstellerebene schädlich war, ist nunmehr schlicht maßgeblich, ob ein Wettbewerbsverhältnis auch auf der vorgelagerten Marktstufe besteht. Dies unabhängig davon, ob die beteiligten Unternehmen dort als Hersteller, Importeure oder Großhändler aktiv sind.
Regelungen zum Informationsaustausch
Erstmals enthält die Vertikal-GVO Regelungen zum Informationsaustausch im Vertikalverhältnis für den Fall, dass die beteiligten Unternehmen auf der nachgelagerten Marktstufe zumindest potentielle Wettbewerber sind. Ob die qualitative Anknüpfung an die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung oder die Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder Vertragsdienstleistungen wirklich brauchbare Kriterien sind, wird sich zeigen müssen.
Eingeschränkte Anwendbarkeit der Vertikal-GVO bei Online-Vermittlungsdiensten
Bedeutsam ist der Ausschluss der Freistellung bei Online-Vermittlungsdiensten, insbesondere also Online-Marktplätzen, wenn der Marktplatzbetreiber ein Wettbewerber für die auf dem Marktplatz vermittelten Produkte und Dienstleistungen ist. Der duale Vertriebsansatz von Amazon & Co. wird sich damit nicht auf die Freistellung nach der Vertikal-GVO berufen können.
Änderungen bei den Kernbeschränkungen
Auf den ersten Blick recht umfassend erscheinen die Änderungen bei den Kernbeschränkungen, insbesondere hinsichtlich der Zuweisung von Verkaufsgebieten und Kundengruppen gemäß Art. 4 lit. b) – d) der Vertikal-GVO 2022. Die Auffächerung in Alleinvertrieb, selektiven Vertrieb und sonstigen Vertrieb enthält aber tatsächlich gar nicht so viele Neuerungen. Wichtig ist die Erhöhung der kritischen Grenzen für den Vorbehalt von Exklusivgebieten. Während nach der Vertikal-GVO 2010 die exklusive Zuweisung von Vertriebsgebieten bereits dann unzulässig wurde, wenn ein Gebiet mehr als einem Händler zugewiesen wurde, wurde diese Grenze nun auf fünf Abnehmer erhöht. Zugleich wurde die Beschränkung der Zuweisung auf die erste Handelsstufe aufgehoben. Nunmehr können die Beschränkungen auch den Direktkunden des Abnehmers, also einer weiteren Handelsstufe, auferlegt werden.
Ebenfalls neu ist die bereits oben angesprochene Aufnahme von Regelungen zur Beschränkung des Internethandels in Ziffer 4 lit. e) der Vertikal-GVO 2022.
Sonstige nicht freigestellte Beschränkungen
Wesentlich ist die Neuregelung für langfristige Wettbewerbsverbote. So gelten Wettbewerbsverbote, deren Dauer sich über den Zeitraum von fünf Jahren hinaus stillschweigend verlängert, nun nicht mehr per se als unzulässige Wettbewerbsverbote von mehr als fünf Jahren Laufzeit. Derartige Wettbewerbsverbote sind nunmehr also grundsätzlich freigestellt, solange diese durch den Händler gekündigt werden können. Nicht freigestellt sind dagegen auch weiterhin Wettbewerbsverbote, die bereits von vornherein für einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren vereinbart werden.
Neu aufgenommen wurde das Verbot, einen Abnehmer von Online-Vermittlungsdiensten zu veranlassen, Endverbrauchern Waren oder Dienstleistungen nicht über konkurrierende Online-Vermittlungsdienste zu günstigeren Bedingungen anzubieten, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen.
Vorläufiges Fazit
Die EU-Kommission führt mit der Vertikal-GVO 2022 eine Reihe wesentlicher Neuerungen ein. Dies wirkt sich insbesondere im Bereich des Onlinehandels, der Online-Marktplätze und des dualen Vertriebs aus. Diese Konstellationen waren unter der Vertikal-GVO 2010 teilweise nur schwer zu greifen. Sehr zu begrüßen ist, dass die EU-Kommission von einigen Überlegungen des Entwurfs 2021, die zu erheblicher Rechtsunsicherheit geführt hätten, wieder abgerückt ist. Ob es der EU-Kommission gelungen ist, ihre wichtigste Gruppenfreistellungsverordnung fit für die neue Vertriebswelt zu machen, wird sich zeigen. Genügend Zeit dafür ist allemal – die neue Vertikal-GVO gilt bis ins Jahr 2034.
Dr. Anno Haberer berät im Kartellrecht und gewerblichen Rechtsschutz, im allgemeinen Wirtschaftsrecht sowie im IT- und Datenschutzrecht. Für Fragen rund um das Thema Kartellrecht steht Ihnen Herr Dr. Haberer (anno.haberer@rittershaus.net) gerne zur Verfügung.